Premier League Offside – Folge 9:

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Autor: Carsten Germann
Veröffentlicht: 29.05.2020

Veröffentlicht in Premier League Offside

Zeit der Pioniere – Warum die Bundesliga plötzlich ein Vorbild für die Premier League ist

Eine Gewissheit haben wir. Am 17. Juni wird die Premier League aus der Corona-Zwangspause zurückkehren.

Diese Nachricht nötigte Gary Lineker bei Twitter dazu, den Text eines englischen Fußball-Evergreens – Sie ahnen es: Es ist Football’s coming home – abzuändern. „It's coming back, it's coming back, it's coming, football's coming back. June 17“, schrieb der WM-Torschützenkönig von 1986, für den Fußball ein einfaches Spiel mit 22 Mann und einem Ball ist, an dessen Ende immer die Deutschen gewinnen…

Gary Lineker auf Twitter

Footballs caming back - Gary Lineker

Die haben auch dieses Mal gewonnen. Sie haben den Re-Start der Bundesliga gegen alle öffentlichen Widerstände – und natürlich gegen den Willen vieler Fans – durchgedrückt. Mit Geisterspielen, versteht sich, und einem neuen Broadcaster. Dass dieses Modell bei allem Zähneknirschen der Skeptiker erfolgreich sein kann, zeigten die Reaktionen darauf aus England.
Die Premier-League-Experten fühlten sich in der ersten Woche nach dem Re-Start der Fußball-Bundesliga wie auf Neuland. Galt es doch für sie, nicht nur verstärkt auf die Spiele der deutschen Eliteliga zu schauen – die Bundesliga spielt in der Wahrnehmung im Premier-League-Land eine, sagen wir mal, untergeordnete Rolle – sondern, sich auch erstmals mit dem TV-Journalismus in Zeiten von Corona auseinanderzusetzen.

Kommentare aus dem Home Office anstatt aus dem Stadion, Field-Reporter mit Schutzmaske, mit Folien geschützte Richt-Mikrofone und Interviews mit Mindestabstand. Willkommen in der Fantasy-Disko? Nein, willkommen im Fußball des Jahres 2020!

„Gut, dass der Fußball zurück ist“

Gewöhnungsbedürftig. Immer noch. „Ich finde es großartig, dass der Livesport Fußball zurück ist“, sagt der ehemalige englische Nationalspieler Martin Keown (53), der in 21 Profi-Jahren mit dem FC Arsenal, Aston Villa, Leicester City und natürlich mit den „Three Lions“ so einiges erlebt hat, und inzwischen für BT Sports als Experte arbeitet.

„Wir haben uns wie TV-Pioniere gesehen“, erklärt Keown im Daily Mail, „das Spiel war in Frankfurt (Eintracht Frankfurt gegen Borussia Mönchengladbach, der Autor), mein Kommentatoren-Kollege Paul Dempsey war in Dublin, ich in Oxford und unser Produzent in London.“ Das erinnerte mich im ersten Wurf an Otto Waalkes und Franz Anton Beckenbauer. Der Ostfriese und HSV-Fan grüßte den Fußball-Kaiser einst via RAN-Live-Schalte: „Herr Beckenbauer! Sie sind in Hamburg und ich bin in München. So’ n Zufall…“

Das aber nur nebenbei. „Vielleicht“, mutmaßt Keown, „ist das ein Zeichen für das, was uns in der Premier League noch erwartet.“ An die gespenstische, an Kreisklassen-Spiele erinnernde Atmosphäre in den leeren Stadien werden sich die englischen Fans, Reporter und TV-Experten gewöhnen müssen, wenn auf der Insel wieder gespielt wird. Das ist eine ganz andere Situation. Es gibt keinen Heimvorteil oder „Wir mussten ja auswärts ran“-Nachteil mehr, keine überhitzte Stimmung mehr, keine Rudelbildung mehr. Nichts. Es ist Fußball vom Reißbrett. Ohne Seele.

„Der Fußball hat sich gegen das Virus gewehrt“

Man kann zu diesem Re-Start der Bundesliga stehen, wie man will, die Mehrheit der britischen Medien wertete ihn als Signal für den Aufbruch. „Der Fußball hat mit dem Re-Start in der Bundesliga gezeigt, dass er sich gegen das Coronavirus wehrt. Beim Zweikampf gab es keinen Abstand, aber sehr wohl als Haaland den ersten Treffer (im Revier-Derby BVB – FC Schalke 04, d. Autor) erzielte“, hatte das Massenblatt The Sun genau hingeschaut. Für den Daily Telegraph ist – so sind die Engländer nun mal – seelenloser Fußball immer noch besser als gar kein Fußball. „Die Rückkehr der Bundesliga hat sich funktional, kalt und seelenlos angefühlt. Aber das ist alles, was wir momentan haben“, hieß es dort. Klingt wie: Wenigstens haben wir Kaffee.

Wirklich ein Stimmungsmacher?

Einzig der Daily Mirror steuert dagegen und stimmt nicht in den Chor der Re-Start-Jubler ein. „Ein kalter Kompromiss. Vielleicht eine klinische Übung. Sicherlich ein unheimliches Ereignis. Aber es ist zumindest eine Ablenkung. Hat die Rückkehr der Bundesliga die Stimmung einer Nation angehoben? Nein, wahrscheinlich nicht einmal in Deutschland“, so das Boulevardblatt, „aber war es eine angenehme Alternative zum täglichen Kreislauf von Angst und Sorge? Nachdrücklich ja.“
Mit diesem Status quo werden wir noch eine Zeitlang zurechtkommen müssen. Die Premier League nach Corona wird nicht die vor dem Ausbruch der Pandemie sein.

Der traurigste Meister aller Zeiten

Der größte Verlierer wird der neue englische Meister sein, der FC Liverpool. Die Behörden, so war in den letzten Wochen zu lesen, werden gegen Fans des FC Liverpool, der schon im ersten Spiel nach dem Re-Start beim Tabellenzweiten Manchester City praktisch den Titel klar machen kann, drakonische Strafen verhängen, so diese sich doch zum leeren Etihad Stadium aufmachen sollten. Die Austragung von Liverpools „Meister-Spielen“ in Manchester und gegen Crystal Palace ist deshalb nach wie vor in neutralen Stadien denkbar.

Eine bizarre Situation. Englischer Meister – und keiner hat’s gesehen! Der Tag, auf den Millionen von LFC-Fans auf der ganzen Welt 30 Jahre lang warten, als Marginalie? Das ist grausam. Eine Meisterfeier des FC Liverpool im gähnend leeren Stadion in Anfield, in Manchester oder anderswo, „on neutral venue“ – das will ich nicht sehen, das will wohl niemand sehen, der den Fußball liebt.

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Der FC Liverpool wird definitiv im leeren Anfield Stadium den Meistertitel feiern müssen…

„Im letzten Jahr“, schreibt Gavin Kelley-Day von Vital Liverpool im Saison-Guide Football 2020 (World Soccer), „hätten wir den Titel in den Augen vieler Beobachter verdient gehabt. Die Enttäuschung darüber löste sich sehr schnell durch den Gewinn des sechsten Europacup-Titels.“ Richtig. Wir haben es ja alle erlebt. Aber einen solchen Trostpreis wird es dieses Mal nicht geben.

Es sei denn… es sei denn, die Kreativköpfe beim FC Liverpool haben eine ähnlich clevere Lösung wie die Dänen von Aarhus GF. „Zoom“ heißt das Zauberwort – und da sind wir wieder bei den TV-Pionieren. Zum Spiel gegen Randers FC beim Re-Start in Dänemark am 29. Mai 2020 wollte Aarhus seine Fans über große Bildschirme ins Stadion schalten – auf Wunsch auch in verschiedene Blöcke im Stadion. So könnten die Anhänger wieder eine Art Live-Element im Spiel bilden. Willkommen im Fußball 2020. Eine Idee für die Premier League? You’ll never zoom alone!

Der Autor: Carsten Germann berichtet seit 2002 aus erster Hand über den englischen Fußball, u. a. für DIE WELT, BILD am SONNTAG und seit 2018 als leitender Redakteur bei Ligalive.net. Zudem gab er mit den Büchern Football’s home (2007) und Absolute Dynamite! (2010) zwei Sammelbände mit seinen Fußball-Reiseerlebnissen aus Großbritannien heraus. Für DIE FUSSBALLREISE schreibt er regelmäßig über den Insel-Kick.

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