Premier League Offside – Folge 10:

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Autor: Carsten Germann
Veröffentlicht: 22.06.2020

Veröffentlicht in Premier League Offside

300 Fans und ein Saxophon-Spieler – Re-Start der Premier League

Was waren das für Lobeshymnen nach dem Re-Start der Fußball-Bundesliga Mitte Mai! „Geisterspiele“ mit der Atmosphäre eines – bei allem Respekt vor den unterklassigen Kickern – Kreisliga-Spiels als „Zeichen“ nach der Corona-Pandemie. Okay, wer es mag… Fußball-Reporter und Experten als „TV-Pioniere“ (Martin Keown), absolutes Neuland und leuchtendes Beispiel für andere Top-Ligen? Na ja…

Das folgende Medien-Echo war fast wie ein Rausch. National wie international. Es war keine gute Zeit für Kritiker. Ende letzter Woche ist die Premier League im Geisterspiel-Modus zurückgekehrt – und die Reaktionen fallen nicht mehr so euphorisch aus wie beim Neustart der Bundesliga. „Es war, um ehrlich zu sein, ein lauwarmes Comeback“, schrieb etwa die Zeitung Daily Mail nach dem ersten Geisterspieltag, „sich in Stadien ohne Fans zurecht zu finden, wird die Spieler Zeit kosten, vor allem, weil sie immer noch dabei sind, ihre Fitness wiederzufinden.“ BBC-Chefkommentator Phil McNulty nach dem 202. Merseyside-Derby zwischen dem FC Everton und dem FC Liverpool: „Es war eine bizarre, gewöhnungsbedürftige Veranstaltung, der der Lärm und die Leidenschaft, die zu diesem Spiel gehören, gefehlt haben.“ Das ist noch sehr vornehm ausgedrückt.

Leere Stadien? Nicht ganz!

Was mir gefiel: Die Vereine haben es in England irgendwie cleverer gelöst mit den fehlenden Fans als dies in der Bundesliga der Fall war. Tottenham Hotspur am letzten Freitag beim 1:1 gegen Manchester United und Manchester City am Montagabend gegen den FC Burnley (5:0) brachten Anhänger via Stream live auf die Großbild-Leinwänden im Stadion, sodass es wenigstens einem Teil der Zuschauer der „Spurs“ und der „Citizens“ vergönnt war, am wohl ungewöhnlichsten Fußball-Event der britischen Geschichte teilzunehmen.

Weniger Tore, kaum Heimsiege – die „neue“ Normalität in der Premier League

Ansonsten hat sich schon am ersten Premier-League-Wochenende ohne Fans ein Trend abgezeichnet. Es fallen weniger Tore, es gibt keinen Heimvorteil mehr – nur 2 Teams konnten im eigenen (leeren) Stadion gewinnen – und es gibt mehr Fouls als vor dem „Lockdown“.
In Zahlen: Die Anzahl der Foulspiele pro Partie ist auf 23,6 gegenüber 21,2 vor der Corona-Zwangspause gestiegen. Die Zahl der Heimsiege von 45 auf 27 Prozent gesunken und die Anzahl der Tore in der ersten Hälfte auf 22 Prozent gegenüber 46 Prozent zuvor zurückgegangen. Tore pro Spiel gab es 2,3 im Schnitt, während es in den Partien vor der Zwangspause 2,7 pro Match waren. Auch zielen die Superstars der Premier League weniger aufs Tor als vor Corona. Nur noch 22,2 Schüsse werden pro Spiel im Schnitt abgefeuert, vorher waren es 25,2. „Neue Normalität“ heißt das wohl im neudeutschen News-Sprech.

Derbe Trainer-Sprüche? – Entschuldigung, aber wir spielen Fußball!

Soweit die Fakten. Wenn man diesem synthetisch wirkenden Treiben auf dem Rasen etwas Gutes, etwas Ursprüngliches – klar, der Re-Start mit Geisterspielen war natürlich selbstverständlich „alternativlos“ – abringen will, dann ist es dieses Detail. Man hört die mitunter derben Sprüche und Flüche von den Trainerbänken, die sonst im Soundbett der Fans verschluckt werden. So hat sich Sheffield Uniteds Coach Chris Wilder so derart über den 4. Fehlpass in Folge von Oliver Norwood im Spiel gegen Newcastle United aufgeregt, dass Sky Sports sich anschließend sogar für die Worte des Trainers entschuldigte.

Premier-League-Restart lockt die TV-Zuschauer

Wenn es noch eines Beweises bedurft hat, dass Fußball längst ein Fernsehsport und nicht mehr der Sport der Stadionbesucher ist, dann hat ihn der Pay-TV-Sender in diesem Moment erbracht. Die TV-Sender in Großbritannien sind ohnehin die Profiteure des Re-Starts. Die Einschalt-Quoten gingen durch die Decke. 5,5 Mio. Fans sahen am Sonntagabend in der Spitze das Stadtduell zwischen dem FC Everton und dem FC Liverpool (0:0). Das sind 1,2 Mio. TV-Zuschauer mehr als beim letzten Quoten-Hit vor dem Lockdown, dem Manchester-Derby mit United und City, das 4,3 Mio. Zuseher an die Bildschirme brachte.

Steve Bruce: „Es ist fremd, ohne Fans zu spielen“

Newcastle Uniteds Coach Steve Bruce erging es beim Anblick der leeren Stadien wohl ähnlich wie vielen anderen Beobachtern. „Wir haben nun erfahren, wie fremd es ist, ohne Fans zu spielen“, brach Bruce eine Lanze für den Publikumssport Fußball, „wenn wir jemals eine Erinnerung dafür gebraucht haben, wie sehr unser Spiel unseren Fans gehört, dann müssen wir nur das Spiel gegen Sheffield anschauen. Es gibt keinen Zweifel dafür, dass die Anhänger, die hinter uns stehen, eine große Rolle spielen, aber wir sitzen nun alle im selben Boot und müssen uns an diese Umstände gewöhnen.“ Es dürfte ein langer Reifeprozess werden.

Das traurigste Merseyside-Derby ever

Noch nicht in Nach-Corona-Form ist der designierte Meister FC Liverpool. Die „Reds“ boten im Merseyside-Derby beim FC Everton trotz der 5, von Jürgen Klopp vorgenommenen Wechsel, eine schwache Vorstellung. Einzig Torhüter Alisson Becker war in der tristen Atmosphäre des leeren Goodison Park hellwach und verhinderte mit tollen Reflexen eine Niederlage des Tabellenführers. Ansonsten passte sich das Spiel des Champions der trostlosen Umgebung an. 60.000 Zuschauer hat das Duell zwischen den „Reds“ und den „Toffees“ im März 1967 einmal in den Goodison Park gelockt. Am Sonntagabend waren es 300, die sich rund um das Stadion, das nur gut einen Kilometer Luftlinie vom Anfield Stadium des FC Liverpool entfernt liegt, herum drückten. Die Order der Polizei lautete, dass niemand sich dem Stadion auch nur hatte annähern dürfen…

„Forget about everything“

Immer wieder war dabei am Sonntagabend die Musik eines Saxophonisten zu hören. Sein Repertoire war so traurig wie der Anblick im Stadion. „Love will tear us apart“ von Joy Division und „Baker Street“ von Gerry Rafferty († 2011).
„Well, another crazy day, you'll drink the night away and forget about everything“, sang Rafferty schon 1978. Dem ist nichts hinzuzufügen.


Goodison Park Everton
Shutdown im Goodison Park beim FC Everton… Fotorechte: Shutterstock / Jason Wells

Der Autor: Carsten Germann berichtet seit 2002 aus erster Hand über den englischen Fußball, u. a. für DIE WELT, BILD am SONNTAG und seit 2018 als leitender Redakteur bei Ligalive.net. Zudem gab er mit den Büchern Football’s home (2007) und Absolute Dynamite! (2010) zwei Sammelbände mit seinen Fußball-Reiseerlebnissen aus Großbritannien heraus. Für DIE FUSSBALLREISE schreibt er regelmäßig über den Insel-Kick.

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