Premier League Offside – Folge 25:

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Autor: Carsten Germann
Veröffentlicht: 12.02.2022

Veröffentlicht in Premier League Offside

Fußballreisen nach England: Zeit für Helden, Zeit für den FA Cup!

Es ist der älteste Pokal-Wettbewerb der Welt. In diesem Jahr feiert der FA Cup seinen 150. Geburtstag. Ich hatte die Ehre, 2006 bei einem der denkwürdigsten Finals aller Zeiten, Liverpools Erfolg im Elfer-Krimi gegen West Ham United, in Cardiff als Reporter für DIE WELT mit dabei zu sein.

Bird in Hand Lovedean Portsmouth

Der FA Cup - Die begehrte Trophäe wurde während des zweiten Weltkriegs im The Bird in Hand Pub in Lovedean nahe Portsmouth versteckt, nachdem zuletzt der FC Portsmouth 1939 den FA Cup vor einer 7 jährigen Kriegspause gewann (Bild nachgestellt).

Der Favorit aus Liverpool setzte sich damals dank einer unheimlichen Energieleistung und dank der individuellen Klasse von Steven Gerrard noch gegen die als Außenseiter gehandelten „Hammers“ aus London durch. Im Regionalzug durch Wales sprach ich mit vielen Liverpool-Anhängern, die West Ham sogar den Sieg gegönnt hätten.
Glücklich oder nicht, der FA Cup lebt von diesen märchenhaften Geschichten, bei denen die vermeintlich Kleinen die Großen schlagen. Ein Klub, dem dies im März 2001 gelang, waren die Wycombe Wanderers.

Es war in der Zeit, als Leicester City, das 2016 die größte Meister-Sensation der Premier-League-Geschichte schaffte, noch im altehrwürdigen Stadion an der Filbert Street spielte und die Arbeiten am neuen Stadion (seit 2011 heißt dieses „King Power Stadium“) liefen noch. Im April 2002 zog Leicester um. Zuvor blamierte man sich noch mal in der alten Heimstätte.

Das neue Stadion von Leicester City - King Power Stadium

Das neue Stadion von Leicester City - King Power Stadium

Im FA Cup-Viertelfinale trafen die „Foxes“ damals auf den Drittligisten Wycombe Wanderers. An eine Blamage dachte wohl niemand. Schließlich hatte die Mannschaft um den deutschen Europameister Steffen Freund ein paar Tage zuvor in der Premier League unter den Augen von Ex-Premierminister John Mayor den großen FC Liverpool mit 2:0 geschlagen. Was also sollte schief gehen? Knapp 95 Minuten später war eine der größten Sensationen im FA Cup perfekt. Mit einer wirklich filmreifen Geschichte.

Wycombe: Wer ist eigentlich unser neuer Mitspieler?

Viele der Wycombe-Spieler, die an diesem verregneten Nachmittag in Leicester ankamen, wunderten sich zuerst ein wenig über ein neues Gesicht. Es war Roy Essandoh, Jahrgang 1976, geboren in der nordirischen Hauptstadt Belfast. Er spielte nämlich erst seit gut einer Woche für das Team aus Wycombe, einer Kleinstadt nahe London mit rund 80.000 Einwohnern. „Ich kenne nicht mal die Namen aller meiner Mitspieler“, scherzte Essandoh vor der Partie. Kein Wunder, kam er doch via Teletext-Anzeige (ja, sowas gab es 2001 noch…) zu den Wanderers.

„Helft uns, wir brauchen dringend Spieler. Dies ist eine ernst gemeinte Anfrage des Wycombe Wanderers F.C.“

Das war der Text der Kleinanzeige, die Wycombe Ende Februar 2001 auf seiner Homepage veröffentlichte. Acht Stammspieler fehlten verletzungsbedingt, darunter sechs Stürmer. Zeit für Helden. Wycombe-Trainer Lawrie Sanchez rief sogar seinen Kumpel Gianluca Vialli an, der sich am Saisonende 1999/2000 beim FC Chelsea in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet hat. Vialli sagte ab. Lawrie Sanchez wusste schon vorher, wie FA Cup-Sensation geht. 1988 hat er mit der „Crazy Gang“ des FC Wimbledon den FC Liverpool im Finale (1:0) geschlagen und den Cup ins Tennis-Mekka geholt. Da aber nur ein Spieler auf die Teletext-Anzeige antwortete, fiel die Auswahl leicht. Roy Essandoh war dabei kein leichter Kunde. Er hat in sechs Jahren für sechs Klubs gespielt, 1998 auch mal in St. Pölten in Österreich. Spötter sagen, er hätte es nie länger als zwei Halbzeiten bei einem Klub ausgehalten.

Die Legende vom „Teletext-Roy“ (Mail on Sunday), vom Stürmer aus dem Internet, wollte Essandoh aber rückblickend nicht unterschreiben: „Ich weiß nicht, ob und wie Wycombe vorher inseriert hat. Ich kann nur sagen, dass mich mein Berater anrief und mir sagte, dass wir ein Probetraining in Wycombe hätten.“ Nach nur einer einzigen Trainingseinheit erhielt Essandoh einen Vertrag für zwei Wochen. Wenn man es genau nahm, konnte dieser Essandoh gar nicht der Mann sein, den der temperamentvolle Lawrie Sanchez so dringend suchte. Schließlich brauchte er Kanonen und keine Ersatzteile. In gerade mal sechs Spielen in den britischen Ligen hatte Essandoh nicht ein einziges Mal getroffen. Für Wycombe hatte Essandoh seit dem 3. März 2001 in zwei Partien gegen Port Vale und den FC Reading insgesamt 91 Minuten gespielt. Nie in seiner wechselhaften Karriere hat er vor mehr als 10.000 Menschen gekickt.

Wycombes Glück: Leicester spielte, als wäre es das Ziel dieses Spiels, die uralte Anzeigentafel auf dem Tribünendach des Stadions an der Filbert Street zu treffen. Zehn Minuten vor Schluss brachte Sanchez beim Stand von 1:1 Essandoh. Die Sensation nahm ihren Lauf. Als Essandoh sich in der Nachspielzeit nach einer Kopfballvorlage im Strafraum höher schraubte als sein Gegenspieler und zum 2:1 für Wycombe einköpfte, war der vom Schiedsrichter nach 77 Minuten in die Katakomben verwiesene Lawrie Sanchez nicht mehr zu halten vor Freude.

„Dieser kleine Depp hat unseren Klub ruiniert“

„Es ist schwer zu beschreiben“, erzählte mir Roy Essandoh im Jahr 2006, „viele Leute haben mich seitdem nach dieser Szene gefragt. Es lief alles wie in Zeitlupe ab.“ Das 2:1 über Leicester City war aber auch in Slow Motion Realität. Ebenso wie der große Triumphzug durch das beschauliche Wycombe wenige Tage später. „Wir wurden mit einem blauen Bus durch die Stadt gefahren“, erinnert sich Roy Essandoh, „beinahe die ganze Stadt war auf den Beinen, um uns zuzujubeln. Ich schätze, dass mindestens 40.000 Fans da waren. Dabei waren wir gerade mal ins Halbfinale gekommen.“

Für den blamierten Klub Leicester City ist die 1:2-Pleite gegen Wycombe der Anfang einer langen Talfahrt. Am Ende der Saison 2001/2002 steigen die „Foxes“ aus der Premier League ab. „Auf die Frage, wer unseren Klub ruiniert hat, gibt es nur eine Antwort“, schrieb ein frustrierter Fan im Internetforum Foxestalk.co.uk, „dieser kleine Depp namens Roy Essandoh.“

Das ist lange her. Roy Essandoh hat nach seinem Coup in Leicester noch bis 2011 gespielt und dabei eine echte Fußballreise durch England hingelegt. Er war im schönen Cambridge, bei Bishop’s Strotford FC, Kettering Town, Ebbsfleet United und Braintree Town in der Grafschaft Essex.

2022: Der neue Roy Essandoh heißt Philip Zinckernagel

Leicester City gehört heute zum Establishment der Premier League. Das ist ein Status, den sich der Klub aus Mittelengland hart erarbeitet hat, der aber nicht vor neuerlichen Blamagen schützt. Der Essandoh des Jahres 2022 heißt Philip Zinckernagel (27) – und spielt für Nottingham Forest. Mit vier Vereinen, für die der ehemalige dänische U18-Nationalspieler seit 2018 auflief, ist er so oder so klar auf den Spuren von Roy Essandoh…

Adebayo Akinfenwa - Wycombe Wanderers

Wie einst Roy Essandoh (nicht im Bild) eine Legende der Wycombe Wanderers: Der schwergewichtige Stürmer Adebayo Akinfenwa. Foto: Shutterstock

Kuriose Zahlen aus Nottingham

Die „Tricky Trees“ aus den East Midlands haben Fußballgeschichte geschrieben. 1979 und 1980 gewannen sie in München und Madrid gegen Malmö FF und gegen den Hamburger SV jeweils den Europapokal der Landesmeister (zwei Mal 1:0). Spiele, die man nie vergisst. Im City-Ground von Nottingham, wo das Pub Larwood & Voce nur knapp fünf Minuten Fußmarsch vom Stadion-Eingang für Gästefans entfernt liegt und deshalb für das Bier vor und nach dem Spiel wesentlich besser geeignet ist als das Trent Bridge Inn (TBI) in der Radcliffe Road –hat man sich am 6. Februar 2022 wohl an diese Glanzzeiten unter Trainer-Legende Brian Howard Clough († 2004), Tony Woodcock und Trevor Francis erinnert.

Lewis Grabban von Nottingham Forest

Lewis Grabban und Nottingham Forest landeten 2022 eine echte FA-Cup-Sensation. Foto: Shutterstock

„Das werdet Ihr niemals singen“

„Champions of Europe, you‘ ll never sing that“, Europacupsieger – das werdet Ihr niemals singen, so begrüßten die Nottingham-Fans den Pokalverteidiger Leicester City. Und LCFC-Coach Brendan Rodgers musste sich „You’ll get sacked in the Morning“, am nächsten Morgen wirst du gefeuert, anhören. Auch nicht schlecht.

Nottingham Forest, zuletzt 1991 im englischen Pokalfinale, gelang ein fulminanter 4:1-Sieg gegen den amtierenden FA Cup-Sieger. Ein Feiertag für den Zweitligisten. Die neuen FA Cup-Helden hießen Philip Zinckernagel, Brennan Johnson, Joe Worral und Djed Spence. Sie schafften eine Pokal-Sensation, die es im FA Cup nicht oft gegeben hat. Drei oder mehr Gegentore gegen einen unterklassigen Klub musste ein Cupverteidiger nämlich erst zum dritten Mal in 150 Jahren schlucken. Zuletzt 1960. Damals war Nottingham selbst der Leidtragende gegen Sheffield United (0:3) Und 1905/06, als der Fußball laufen lernte, Aston Villa gegen Manchester United (1:5).

Seit 2001 und Roy Essandoh hat sich vieles im englischen Fußball verändert. Aber eine Konstante gibt es. Der FA Cup ist und bleibt ein Wettbewerb für Helden – und seine Spiele ideal für eine Fußballreise nach England.

 

Carsten GermannDer Autor: Carsten Germann berichtet seit 2002 aus erster Hand über den englischen Fußball, u. a. für DIE WELT, BILD am SONNTAG und seit April 2021 auch als leitender Redakteur beim Portal Fussballdaten.de. Zudem gab er mit den Büchern Football’s home (2007) und Absolute Dynamite! (2010) zwei Sammelbände mit seinen Fußball-Reiseerlebnissen aus Großbritannien heraus. Für DIE FUSSBALLREISE schreibt er regelmäßig über den Insel-Kick.