Premier League Offside, Folge 37

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Autor: Carsten Germann
Veröffentlicht: 06.06.2023

Veröffentlicht in Premier League Offside

Midnight in Chelsea – Transfer-Offensive ins Nichts

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Der FC Chelsea, hier im Champions-League-Achtelfinale 2023 bei Borussia Dortmund, enttäuschte in der Premier League auf ganzer Linie. Foto: Shutterstock.

 Selten stand der FC Chelsea so in der Kritik wie in diesen Tagen. Die kommende Europacup-Saison wird ohne die „Blues“ stattfinden. In der Premier League beendete der Champions-League-Sieger von 2021, dessen Stadion an der Stamford Bridge für eine Fußballreise nach London absolut lohnend ist, die Spielzeit auf Rang 12. Nun droht der Abgang des deutschen Nationalspielers Kai Havertz (23), den man 2020 für 80 Millionen Euro geholt hatte. Eine Bestandsaufnahme.

Wie die britische Zeitung Daily Mail am 4. Juni 2023 berichtete, ist Kai Havertz ein „Transferziel von Real Madrid.“ Die „Königlichen“ wollten den deutschen Halbstürmer, für den Chelsea 2020 eine Sockel-Ablöse von 80 Mio. Euro hingelegt hatte, schon vor 3 Jahren. Der Club von der Stamford Bridge machte damals das Rennen um das deutsche Supertalent.
Nach dem 0:2 gegen Real Madrid im Viertelfinale schien wieder Bewegung in die Transfer-Sache Havertz gekommen zu sein.

Im Anschluss an dieses Spiel erhielten die Chelsea-Profis hohen Besuch in der Kabine. CFC-Eigentümer Todd Boehly (49), der den Verein aus dem noblen Londoner Südwesten im letzten Jahr von dem wegen seiner Nähe zum russischen Präsidenten Vladimir Putin aus Großbritannien ausgewiesenen Oligarchen Roman Abramowitsch übernahm (siehe dazu auch „Polit-Krimi um den FC Chelsea / Premier-League-Offside vom 14. März 2022), soll die Darbietung des müden Star-Ensembles dabei als „peinliche Leistung“ bezeichnet haben, wie die Times berichtete.

Chelsea-Idol besorgt: „Erkenne den Club nicht wieder“

Das war noch wohlwollend. Chelsea-Legenden wie Didier Drogba gingen da deutlich weiter. „Ich erkenne meinen Club nicht wieder“, sagte der Ivorer, der Chelsea 2012 in München zum Champions-League-Titel schoss. Michael Ballack, mit den „Blues“ u. a. englischer Meister 2010, bei DAZN: „Diese Leistung vorgesetzt zu bekommen von der Mannschaft, ist unterirdisch teilweise. Da müssen sich die Jungs an die Nase packen. Aber da gilt es auch, intern vieles aufzuarbeiten.“
England-Insider Keir Radnedge versuchte es im Kicker-Sportmagazin vom 20. April 2023 mit britischem Humor: „Der FC Chelsea macht einen so konfusen Eindruck, dass es nicht mal überraschen würde, wenn Eigner Todd Boehly nun Frank Lampard entließe, um sich selbst zum Interimstrainer zu ernennen.“

Ob Mauricio Pochettino (51), ,,The Poch", der richtige Mann auf dem Schleudersessel in London ist, ob bei Chelsea ab Sommer wieder der Poch abgeht, wird sich zeigen. 

Ich will nicht kokettieren, aber ich betreue die Premier League und auch den Londoner Nobelklub nun schon viele Jahre. Fünf große Finals (zuletzt 2021) mit dem FC Chelsea habe ich seitdem redaktionell begleiten dürfen.

Der pure Aktionismus

Deshalb sage ich: Nie war das, was an der Stamford Bridge passierte, peinlicher und von mehr Aktionismus geprägt als 2023. Mit dem „Aus“ gegen Real Madrid stand fest: Zum erst zweiten Mal in den letzten 24 Jahren wird Chelsea nicht im Europapokal vertreten sein.

Wayne wunderts? In dieser Form und mit dieser Außendarstellung kann der FC Chelsea diese Zwangspause brauchen! Es ist auch ein tieferer Tiefpunkt für den Verein, der in dieser Saison mit Geld nur so um sich warf, drei Trainer beschäftigte und sich komplett verspekulierte. Frei nach Jon Bon Jovi: Midnight in Chelsea.

Das Unheil nahm seinen Lauf, als man sich im September 2022 im Anschluss an ein 0:1 im Champions-League-Gruppenmatch bei Dinamo Zagreb – ich wollte es bei meiner Ankunft im Kroatien-Urlaub erst gar nicht glauben – von Erfolgstrainer Thomas Tuchel (49, jetzt FC Bayern) trennte.

Der Deutsche hatte Chelsea im Januar 2021 Frank Lampard als Trainer abgelöst und die Londoner im englischen Finale gegen Manchester City (1:0) in Porto zum zweiten Champions-League-Titel geführt. Dass Tuchel im Sommer für den wechselwilligen Superstar Cristiano Ronaldo (38 / jetzt Al-Nassr, Saudi-Arabien) keinen Platz im Kader sah, führte zum Bruch mit Boehly. Tuchel wurde in London durch die kalte Küche verabschiedet. Die von Abramowitsch eingesetzte Klubchefin Marina Granovskaia und Manager Petr Cech, Elfmeter-Held von München 2012 und eine Identifikationsfigur im Verein, gingen schon vorher.

Potter: 24 Millionen Euro für 12 Siege?

Für Tuchels Nachfolger Graham Potter gab man eine kolportierte Ablösesumme von 24 Millionen Euro aus. Und als langjähriger Beobachter fragte man sich: Wofür? „Potter hat weder ein klares spielerisches und taktisches Konzept noch Gefühl für die Stars“, attestiert ihm die SPORT BILD (Ausgabe 03/2023) ein schlechtes Zeugnis.

In Zahlen sah die Potter-Show an der Stamford Bridge nämlich so aus: Nur 12 Siege aus Wettbewerb übergreifend 31 Spielen, davon nur 4 im Kalenderjahr 2023, bei 16 gespielten Partien. Acht Mal blieb Chelsea dabei ohne eigenes Tor.

Im Winter 2022/2023 ging Boehly in die Transfer-Offensive und verpflichtete für mehr als 330 Millionen Euro neue Stars. Darunter auch der teuerste portugiesische Spieler aller Zeiten, Joao Felix. Blickt man nur auf das Foto von seiner Präsentation in London, mit dem Technischen Direktor Christopher Vivell und dem neuen Transferdirektor Paul Winstanley vom 12. Januar 2023, dann fragt man sich damals wie heute, wie das alles zusammenpassen sollte? Der Filigran-Techniker Joao Felix im rauen Wind der Premier League, die neuen und Liga-unerfahrenen Verantwortlichen und ein Klub im Zugzwang. Da war mehr Risiko dabei als es dem letzten unbedarften „Blues“-Fan lieb sein konnte!

Teuerste Leihe aller Zeiten

Für Felix zahlte der einst als „Neureichen-Klub“ der Londoner Hipster verspottete Verein 11 Mio. Euro Leihgebühr an Atlético Madrid. In der Champions League blieb der Portugiese ohne Tor und damit noch weiter hinter den Erwartungen als in der Premier League, wo er gleich im SW-Derby beim FC Fulham (0:1) – diese Partie ist mehr als ein Geheimtipp für eine Fußballreise nach London – Rot sah.

Weltmeister Enzo Fernandez (22) von Benfica Lissabon verpflichtete Chelsea für die zweithöchste Transfersumme in der Premier-League-Historie (121 Mio. Euro). Dass man versuchte, die Ablöse für den Argentinier – bei viereinhalb Jahren Vertrags-Restlaufzeit in Lissabon – um ein Drittel zu drücken versuchte, fand nicht nur Benficas deutscher Coach Roger Schmidt („Schmidteinander“) „respektlos.“

Im Kalinka-Klartext: So etwas hätte es in der Ära Roman Abramowitsch – unter seinem Mäzenatentum holte Chelsea 21 nationale und internationale Titel – nicht gegeben. Panikkäufe waren sowieso nicht die Sache des stillen Russen, der mir 2009 umringt von neun Bodyguards in der Mixed Zone von Wembley einmal zugezwinkert hat.

Von den im Winter geholten Spielern konnte letztlich keiner überzeugen: David Fonfana vom Haaland-Ausbildungsklub Molde FK spielte gerade mal 68 Liga-Minuten – bei 12 Mio. Euro Ablöse an die Norweger!

Joao Felix gelangen immerhin 4 Premier-League-Tore, seine Leihe wird dennoch nicht weitergeführt. Fernandez und der 70 Millionen Euro teure Ukrainer Mykhaylo Mudryk von Schachtar Donezk blieben ohne Torerfolg.

Einen echten Mittelstürmer sucht man ohnehin vergeblich im Ein-Milliarden-Euro-Kader der Londoner. Der deutsche Nationalspieler Kai Havertz hat sich mit 9 Saisontreffern zwar Wettbewerbs übergreifend empfohlen, ist aber gelernter Mittelfeldspieler. Und steht vor dem Absprung.

Ohne einen Knipser vom Kaliber eines Erling Haaland oder Robert Lewandowski wird es nicht gehen. „Big Rom“, Romelu Lukaku, der nach Leihe bei Inter Mailand zurückkehrt, könnte es im zweiten Versuch besser machen.

„Nach dem Aus gegen Real muss der FC Chelsea, speziell der Haupteigner Boehly, nun die Zukunft planen. Das wird nicht so leicht ohne den Europacup“, bilanziert Keir Radnedge.
Stimmt eigentlich, es ist gar nicht Midnight in Chelsea. Es ist fünf Minuten nach Zwölf.


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