Premier League Offside – Folge 24:

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Autor: Carsten Germann
Veröffentlicht: 04.01.2022

Veröffentlicht in Premier League Offside

Wo wird eigentlich gespielt? – So boxte die Premier League den Boxing Day durch

Drei Spielausfälle, eine Rekordzahl von mehr als 105 positive Corona-Tests unter den Profis – und doch hat die Premier League ihren traditionellen Weihnachtsspieltag (Boxing Day) und die Spiele zum Jahreswechsel durchgezogen. Mit Zuschauern und trotz der Absage von drei Partien. Riskant, aber auch mutig.

Während sich in Deutschland der Fußball am 21. Dezember 2021 mal wieder (aus Angst) der Symbolpolitik der Bundesregierung – verbieten statt erklären – gebeugt hat und ab Januar 2022 außer in Hamburg, Berlin und Schleswig-Holstein (Stand: 1. Januar 2022) erneut und auf bis auf Widerruf ohne Zuschauer gekickt wird, freut man sich in England über Fußball-Weihnachtsstimmung und volle Ränge. Ein riskantes Spiel. Trotzdem finde ich das mutig und selbstbewusst. Wie die Engländer eben sind.

Und ich muss sagen: Die misstrauisch und vorwiegend negative Berichterstattung der deutschen Medien zum ausverkauften Wembley-Stadion und vollen Pubs in London während der EURO 2021 im Sommer, überhaupt zu allen anderen Ländern (Schweden, Dänemark oder Israel), die in der Pandemie einen anderen Weg einschlugen als die hoch heilige Bundesregierung, das ging mir schon ziemlich auf den Nerv. So verhält es sich auch jetzt. „Corona-Wahnsinn in England“, titelte BILD.DE. Ja, schon klar. Aber die Premier League hat ein Konzept und das zieht sie durch. Allen sauertöpfischen Reaktionen von Jürgen Klopp (54) und Co zum Trotz.

„Wie eine Lotterie“: Tuchel und Co. mit Riesen-Bedenken

Sicher, die Protagonisten müssen ihre Spieler schützen. Das verstehe ich. Das hat auch oberste Priorität. „Es ist wie eine Lotterie“, sagte Chelseas deutscher Trainer Thomas Tuchel (48) im Vorfeld der Weihnachtspartie bei Aston Villa. „Ich bin überrascht, dass wir spielen“, wunderte sich Everton-Coach Rafael Benitez („The Rafalution“). „Das Risiko ist massiv. Für die Spieler, die Mitarbeiter und natürlich auch für die Fans“, sagte Benitez weiter. Auch das ist richtig. Die Trainer Steven Gerrard (Aston Villa) und Mikel Arteta vom FC Arsenal mussten nach positiven Corona-Tests in Quarantäne und wirkten an Weihnachten bzw. am New Year’s Day nicht mit.

Chelsea-Coach Thomas Tuchel

Chelsea-Coach Thomas Tuchel hat angesichts der hohen Infektionszahlen scharfe Kritik an der Fortsetzung der Premier League mit Zuschauern geäußert. Foto: Shutterstock

Die „Toffees“ vom FC Everton hatte es besonders gebeutelt. Nur neun fitte Feldspieler und drei Torhüter standen dem spanischen Trainer Benitez, den ich in meiner Laufbahn mehrfach vor dem Mikrofon hatte, vor dem schließlich abgesagten Spiel beim FC Burnley zur Verfügung. „Wir müssen schauen, ob wir elf Spieler zusammenbekommen“, so Benitez. Musste er am Ende nicht. Wenn einem Klub COVID-bedingt 14 oder weniger einsatzfähige Spieler hat, wird eine Partie abgesagt.

Besser als Geisterspiele? Besser!

Das ist immer noch fairer und sinnvoller, als der ungleiche Kampf in der sterilen Atmosphäre der Geisterspiele, wo fast immer die technisch besseren Mannschaften gewinnen.
Aber es gibt auch Argumente für die Fortsetzung der Premier League mit drei Spieltagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Und positive Signale von Seiten der Vereine. „Unsere Corona-Ausbrücke sind überstanden“, verkündete Manchester Uniteds Interimstrainer Ralf Rangnick (63) am 25. Dezember 2021 nicht ohne Stolz und vor der Reise nach Newcastle. Dort spielten die „Red Devils“ vor vollen Rängen im St. James‘ Park 1:1.

Hintergrund: Nur zweifach geimpfte Fans dürfen in England die Stadion-Tore (Turnstiles) passieren und das mit einem maximal 48 Stunden alten, negativen COVID19-Test. Stichprobenartig wurden vor den Spielen Tests bei 47 Prozent der Zuschauer durchgeführt. Die Impfungs-Rate der 25 bis 29-Jährigen liegt in Großbritannien laut dem Nachrichtensender CNN bei 78,5 Prozent. Die Quote der geimpften Spieler beträgt 84 Prozent (Quelle: CNN / Stand: 24. Dezember 2021).

„Wir bitten die Fans auch, den Hygiene-Regeln außerhalb der Stadien Folge zu leisten und die Hände an den entsprechenden Stationen zu desinfizieren und beim Einlass ins Stadion entsprechenden Abstand einzuhalten“, heißt es dazu auf der Homepage der Premier League. Eigenverantwortung ist gefragt. Diese traut man den Fans scheinbar nur in England, Frankreich oder – wie am 30. Dezember 2021 bei „O Classico“ mit dem FC Porto gegen Benfica Lissabon (3:1) im letzten Spitzenspiel einer Top-8-Liga im alten Jahr zu sehen – in Portugal zu. Aber nicht in Deutschland. Dass Portugal und nicht der vermeintliche „Organisations-Weltmeister“ Deutschland zwei Mal während der Pandemie das Champions-League-Finale austragen durfte, sagt vieles aus. Auf die „Bedenken“ hinsichtlich des Austragungsorts St. Petersburg im Mai 2022 bin ich schon jetzt gespannt. Das aber nur als Einwurf.

Fans gehen für ihre Klubs ins Risiko

Die Unberechenbarkeit des Virus und die Ad-Hoc-Politik von Liga-Verband und Behörden sorgten bei den Fans in England auch für Unmut. Und für eine harte Geduldsprobe. Beispiel: Die Partie Aston Villa gegen den FC Burnley wurde am 18. Dezember 2021 abgesagt. Wenige Stunden vor dem Anpfiff, sodass die angereisten Burnley-Fans fast 240 Kilometer umsonst gefahren waren.

Aus London reisten die Anhänger des FC Chelsea mehr als 270 Kilometer nach Wolverhampton (0:0), ohne zu wissen, ob die Partie überhaupt stattfinden würde. „Hätte Chelseas Protest gegen die Ansetzung Erfolg gehabt“, erzählt der „Blues“-Fan Teruhito Komatsu, „hätte ich wie viele andere Fans die Reisekosten eingeklagt.“

Zu lasche Tests rund um die Stadien?

Andere Fußballanhänger beklagen die vielerorts sehr unbeständigen Kontrollen an den Eingängen. „Der Zutritt zu den Stadien ist höchst unterschiedlich“, sagt der Manchester United-Fan Rohan Malhotra, „manche prüfen den Impfungs-Status ohne vorherige Ankündigung, in anderen Stadien wird das Bereithalten der Impfpässe angekündigt – und dann wird gar nicht reingeschaut.“ Wieder andere sprechen von „entspannten Einlasskontrollen.“ Tom Masters, Fan des FC Chelsea: „Es hat sich seit der Wiederherstellung der vollen Zuschauer Kapazität in dieser Saison nicht wirklich viel geändert. Einzig der COVID-Check ist neu.“

Vaccinated ins Stadion

Auch wenn die Einlass-Kontrollen in den Englischen Stadien meist entspannt sind, sollte man trotzdem geimpft sein.

Das Fan-Erlebnis bei einer Fußballreise nach England – so glauben viele Premier-League-Zuschauer – ist durch die COVID-Tests kaum beeinträchtigt worden. Komatsu versichert: „Die Situation ist die gleiche wie vor dem Lockdown. Man trinkt in der Umgebung des Stadions und in vollen Pubs und es wird laut gesungen.“ Er gehört zu den Fans, die bereits die dritte Covid-Schutzimpfung (Booster) erhalten haben.

Chelsea Fans an der Stamford Bridge

Volle Ränge und tolle Fußballstimmung trotz Corona: Fans des FC Chelsea an der Stamford Bridge. Foto: Shutterstock

Rund um das Stadion an der Stamford Bridge, wo sich die Fans auch direkt am Bierausschank hinter den Tribünen treffen, gibt es auch Impfzentren. 10.000 Injektionen sollen hier allein am 18. Dezember 2021 vorgenommen worden sein, um die Premier League mitten in der Pandemie und ungeachtet von 100.000 Neuinfektionen pro Tag, weiter für die Zuschauer offen zu halten. Das lässt hoffen.

 

Carsten Germann

Der Autor: Carsten Germann berichtet seit 2002 aus erster Hand über den englischen Fußball, u. a. für DIE WELT, BILD am SONNTAG und seit September 2021 auch als leitender Redakteur bei Fussballdaten.de. Zudem gab er mit den Büchern Football’s home (2007) und Absolute Dynamite! (2010) zwei Sammelbände mit seinen Fußball-Reiseerlebnissen aus Großbritannien heraus. Für DIE FUSSBALLREISE schreibt er regelmäßig über den Insel-Kick.