Premier League Offside – Folge 22:

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Autor: Carsten Germann
Veröffentlicht: 05.11.2021

Veröffentlicht in Premier League Offside

Tolles Stadion – Aber bei Tottenham Hotspur geht der Posch nicht mehr ab!

Eine Fußballreise nach England respektive London ist lohnend. 17 Klubs spielen in der britischen Hauptstadt in einer der ersten fünf Ligen. Aber kaum ein Team hat ein imposanteres Stadion als die Tottenham Hotspur. Das Problem: Den „Spurs“ fehlt in der neuen Arena der inspirierende Geist. Denn Trainer Nuno Espirito Santo (Dt. „Der heilige Geist“) ist seit dem 1. November 2021 seinen Job los.

Oder anders: In Tottenham geht der Posch nicht mehr ab. Gemeint ist natürlich Mauricio Pochettino, der als Coach von Paris St.-Germain derzeit Messi-anische Verhältnisse erlebt. Der argentinische Trainer führte die „Spurs“ 2019 ins Champions-League-Finale gegen den FC Liverpool und damit zum größten internationalen Erfolg der jüngeren Vergangenheit.
Am Tottenham Hotspur Stadium hatte der Londoner Traditionsklub über ein Jahrzehnt herumgedoktert. 2017 wurde die altehrwürdige Heimstätte White Hart Lane abgerissen. Die „Spurs“ verbrachten zwei Saisons im bei den Londoner Klubs nicht wirklich beliebten Nationalstadion in Wembley. War die White Hart Lane nur über einen strammen Fußmarsch von zehn bis 15 Minuten von der Underground-Station Seven Sisters her erreichbar, so haben Stadiongänger in Tottenham nun mit der Haltestelle White Hart Lane die ideale Anbindung. Dank zusätzlicher Buslinien können am Spieltag rund 90.000 Menschen befördert werden. Das Geläuf rund um die alte White Hart Lane, die ein bisschen versteckt in den Häuserreihen im Londoner Norden lag, wurde damit nachhaltig verändert.

Das alte White Hart Lane Stadion - Credit: Carsten Germann

Das alte White Hart Lane Stadion - Foto: Carsten Germann

Tottenham: Es muss wieder Leben in die Stadion eigene Brauerei

Für Biertrinker gibt es auf der Fußballreise nach London ebenfalls gute Nachrichten. Die South Stand – Vorbild: Südtribüne in Dortmund – ist mit 17.500 Zuschauerplätzen die größte Tribüne in Großbritannien. Da wird man selbst auf dem „Spion’s Kop“ in Liverpool neidisch… Auch, weil man in Tottenham nicht nur selbst baut, sondern auch selbst braut. Das Stadion verfügt über eine hauseigene Brauerei und pro Minute können 10.000 Pints Bier ausgeschenkt werden. Schön.
Bleibt nur die Frage: Worauf eigentlich anstoßen? Tottenham Hotspur sitzt in dem neuen und architektonisch wirklich anspruchsvollen und daher höchst sehenswerten Stadion – und wartet auf den heiligen Geist.

Blick ins beeindruckende Tottenham Hotspur Stadium

Blick ins beeindruckende Tottenham Hotspur Stadium. Mittelmäßiger Fußball wird hier auf Dauer nicht gehen. Foto: Shutterstock

Der letzte Titelgewinn, der Erfolg im englischen Ligapokal, datiert aus dem Jahr 2008. Einen wirklich hohen Stellenwert hat er in Fan-Kreisen nicht. Das Champions-League-Finale war die vielleicht größte Chance, diese Titel-Misere zu beenden. Das war am 1. Juni 2019 in Madrid. Tottenham verlor aber mit 0:2 gegen die „Reds“ und Jürgen Klopp. Schon am 19. November 2019 musste Pochettino („The Posch“) gehen, ehe er am 25. Dezember gleichen Jahres Thomas Tuchel („Thomas Tuchels“, Christian Streich) in Paris als Cheftrainer ablöste. Danach versuchte es Tottenham-Macher Daniel Levy (59) mit dem „Special One“.

José Mourinho (58) schien der richtige Mann zu sein, um das neue, fast eine halbe Milliarde Euro teure Stadion mit Leben zu füllen. Dass hier „Der Posch“, die Post oder der José abgehen können (suchen Sie sich Ihre Lieblings-Metapher aus…), zeigte die Mannschaft um Superstar Harry Kane (28) unter anderem im englischen Champions-League-Duell gegen Manchester City (1:0) im Viertelfinale 2019. Eine traumhafte Kulisse, die mitreißt. Leider inspirierte dies die „Spurs“ nicht oft genug.

Weder Mourinho noch Espirito Santo fanden in Tottenham den Schalter

Mourinho trat in Tottenham zwar mit drei Siegen in Folge an, aber eine seiner ersten Amtshandlungen war es, Regisseur Christian Eriksen zu vergraulen. Vor allem zu Hause und trotz der Unterstützung von mehr als 60.000 Fans in Weiß im Rücken blieb Tottenham gegen die Großen den Beweis schuldig, ein echtes Premier-League-Spitzenteam zu sein. 0:2 gegen Chelsea, 0:1 gegen Liverpool, 0:1 gegen RB Leipzig in der Champions League und „Aus“ im FA Cup gegen Norwich City (3:4).

Jose Mourinho als Trainer von Tottenham

José Mourinho (re., mit Harry Winks) brachte Tottenham Hotspur – hier am 19. Februar 2020 gegen RB Leipzig – nicht auf Erfolgskurs. Foto: Shutterstock

Ein 1:3 gegen Manchester United leitete schließlich im April 2021 das Ende für den „Special One“ in Tottenham ein. Aus 86 Pflichtspielen holte der Portugiese 1,77 Punkte im Schnitt. Damit war er beispielsweise schlechter als sein Landsmann André Villas-Boas („AVB“), der auf 1,91 Zähler pro Spiel kam und ebenfalls mehr als 500 Tage im Chefsessel saß.

Dass es der Tottenham-Führung um Lewy im Sommer gelang, Harry Kane zu halten, schien für Insider ein Signal für bessere Zeiten an der „Lane“ zu sein. Eine taktische Meisterleistung war es sehr wohl, denn die „Spurs“-Bosse riefen für Kane die Summe ab, die er tatsächlich wert ist – und die der englische Fußballmeister Manchester City nicht gewillt war, zu zahlen. 1:0 für Tottenham, wollte man fast sagen. „Ein neuer Geist“, jubelte England-Legende Keir Radnedge im Kicker-Sportmagazin vom 2. September 2021, „Nuno Espirito Santo hat Tottenham geweckt.“ Der nächste Coach aus Portugal, der 46-jährige Nuno Espirito Santos, sollte den „Spurs“ den heiligen Geist bringen. Ich weiß allerdings aus sicherer Quelle: Der Portugiese war nach dem „Aus“ für Mourinho nie erste Wahl.#

Harry Kane ist der ungekrönte King an der neuen White Hart Lane

Harry Kane ist der ungekrönte King an der neuen White Hart Lane. Foto: Shutterstock

Tottenhams Start war vielversprechend, aber nicht nachhaltig

Seine Anfangserfolge – drei 1:0-Siege gegen Manchester City, in Wolverhampton und gegen den FC Watford führten Tottenham im Sommer 2021 auf Rang eins – waren trügerisch. „Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Spurs unter José Mourinho und dem aktuellen Team: Die Fitness“, analysierte Radnedge, „verspielte Tottenham in der Vorsaison noch wertvolle Punkte, in dem es Vorsprünge aus der Hand gab, brachte man nun drei Mal ein knappes 1:0 über die Runden.“ Das Kernproblem blieb aber: „Der Fußball versprüht dabei keinen riesigen Glanz, eher Pragmatimus.“

Das kannst du aber in einer Fußball-Oper wie in Tottenham oder in Dortmund nicht bzw. nur schwer vermitteln. Vor allem dann nicht, wenn ein Hoffnungsträger wie Kane nicht in Form kommt (Stand 1. November: Ein Premier-League-Tor aus neun Spielen) und ein 25 Millionen Euro teurer Spieler wie Bryan Gil (20, kam vom FC Sevilla) nicht zündet. Die Folge: Tottenham gewann nur eines der letzten drei Premier-League-Spiele und wieder war es eine Heimniederlage, die den Trainerwechsel einleitete. Gegen das eine Woche zuvor noch von Liverpool mit 0:5 verprügelte Manchester United verloren die Londoner glatt mit 0:3. Von 17 Spielen konnte Espirito Santo zwar neun gewinnen, er kassierte mit dem Team aber auch neun Niederlagen, u. a. in der neuen UEFA Conference League bei Vitesse Arnheim (1:0) in Holland. Ohne Kane. Wir beglückwünschen nachträglich jeden Tottenham-Fan, der in diesem Spiel bis zum Schluss durchgehalten hat…

Die Namen Bruno Conte („Er conte nur Chelsea“) und Ronald Koeman geistern bei der Frage nach dem Nachfolger durch London. Wer neuer Trainer wird, muss vor allem wissen: Tottenham ist ein Klub, der vor allem über die Leidenschaft kommt. Es gilt, Leben in das riesige Stadion mit der eigenen Brauerei zu bringen. Nuno Espirito Santo, dieser bescheidene und oft schmallippige Portugiese, war dafür nicht der richtige Mann. „Wir haben noch einen langen Weg vor uns“, sagte Espirito Santo im September. Seit dem 1. November 2021 und nach nur 123 Tagen geht Tottenham diesen Weg erst mal ohne ihn weiter.

 

Carsten Germann

Der Autor: Carsten Germann berichtet seit 2002 aus erster Hand über den englischen Fußball, u. a. für DIE WELT, BILD am SONNTAG und seit September 2021 auch als leitender Redakteur bei Fussballdaten.de. Zudem gab er mit den Büchern Football’s home (2007) und Absolute Dynamite! (2010) zwei Sammelbände mit seinen Fußball-Reiseerlebnissen aus Großbritannien heraus. Für DIE FUSSBALLREISE schreibt er regelmäßig über den Insel-Kick.