Premier League Offside: Bye, bye „Hendo“

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Autor: Carsten Germann
Veröffentlicht: 28.07.2023

Veröffentlicht in Premier League Offside

Jordan Henderson - Ein unmoralischer Transfer?

Jordan Henderson wechselt vom FC Liverpool zu Al-Ettifaq FC in die Saudi Pro League, wo sein ehemaliger Mitspieler, Liverpool-Idol Steven Gerrard, als Trainer das Zepter schwingt. „Hendo“ wird zum höchstdotierten englischen Fußballprofi aller Zeiten. Ein Transfer, der nicht ohne moralische Bedenkenträger auskommt. Also ein Abstieg in den moralischen Untergrund? 

Es ist gerade mal etwas mehr als eine Woche her, da fehlte Jordan Henderson bei Liverpools erstem großem Testspiel in dieser Saison, bei der Stadion-Neueröffnung des Karlsruher SC (4:2). Ich habe diese Partie im neuen „BB Bank Wildpark“ redaktionell begleitet und hätte ihn gern noch einmal im roten Dress des LFC spielen gesehen. Rund um die Partie wurde der Wechsel des früheren Kapitäns des FC Liverpool schon thematisiert.

Seit dem 28. Juli 2023 ist er amtlich. Jordan Henderson wechselt für 14 Millionen Euro Ablöse nach Saudi-Arabien. Liverpool hatte ihn vor mehr als 10 Jahren für 18 Mio. Euro vom AFC Sunderland geholt und der Mittelfeldspieler prägte eine Ära. Sein Vertrag an der Merseyside wäre erst 2025 ausgelaufen. 

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Madrid, 1. Juni 2019: Der größte Erfolg in der Karriere des Jordan Henderson (2. v. l., neben Liverpool-Eigentümer John W. Henry). Aus der Hand von UEFA-Präsident Aleksander Ceferin erhält der Kapitän des FC Liverpool den Champions-League-Pokal. Foto: Imago

Mit diesem Transfer gehen viele Rekord-Zahlen, aber auch viele Fragen einher. Nur vier Spieler, die 33 Jahre oder älter waren, brachten ihren Clubs eine noch höhere Ablöse. Das war natürlich der in fast jedem Ranking unvermeidliche Cristiano Ronaldo (damals 36) bei seiner Rückkehr zu Manchester United (2021) mit 17 Mio. Euro Ablöse an Juventus Turin. Dazu kommen der Torhüter Claudio Bravo, der 2016 für 18 Mio. Euro von Barcelona zu Pep Guardiolas Manchester City wechselte, Robert Lewandowski vom FC Bayern, dessen Dienste dem FC Barcelona 2022 die Summe von 45 Mio. Euro wert waren, und nochmals Ronaldo, den Juventus 2018 mit damals 33 Jahren für 117 Mio. Euro in die Serie A holte. 

Gigantische Zahlen

Noch gigantischer sind die Zahlen, die für Henderson in Saudi-Arabien auf der Haben-Seite stehen. Erfüllt der Vize-Europameister von 2021 seinen bis 2026 datierten Vertrag, wird er laut Daily Mail kolportierte 40 Millionen Euro pro Saison verdienen – das sind umgerechnet über 130 Mio. Euro für die gesamte Vertragslaufzeit und mehr als 720.000 Euro pro Woche. 

Damit steigt „Hendo“ zum bestbezahltesten englischen Spieler aller Zeiten auf, überflügelt den von Bayern München umworbenen Harry Kane von Tottenham Hotspur, Declan Rice, der innerhalb Londons von West Ham United zu Arsenal ging (siehe Premier League Offiside), oder den von Borussia Dortmund zu Real Madrid gewechselten Jude Bellingham. Kane soll bei den „Spurs“ bei 230.000 Euro pro Woche liegen, Bayern München wird sich strecken müssen… 

Soweit das Finanzielle. 

Kommen wir zur moralischen Seite. Rund um das Spiel in Karlsruhe wurde noch gemutmaßt, dass Henderson dieses Traum-Angebot eventuell ausschlagen würde, weil ihm „die Lebensverhältnisse in Saudi-Arabien nicht zusagen.“ Eine heldenhaft-idealistische Vorstellung, die sicher auch Cristiano Ronaldo oder Hendersons ebenfalls nach Saudi-Arabien gewechselten Ex-Mitspieler Roberto Firmino nächtelang wach gehalten hat. 

„Das haut mich um“

Der Transfer von Jordan Henderson vom FC Liverpool zu Al-Ettifaq wird nun von einem Sturm moralischer Entrüstung begleitet. Hintergrund: 2021 war Henderson für den British LGBT Award nominiert und bezog mit einem Text im offiziellen Stadion-Magazin zum Spiel des FC Liverpool gegen den FC Southampton wie folgt Stellung: „Bevor ich Fußballer bin, bin ich zu aller erst Familienvater, Ehemann, Sohn, Bruder und Freund der Menschen, die mir in meinem Leben so viel bedeuten. Die Vorstellung, dass eine von ihnen von einem Fußballspiel ausgeschlossen würde, nur weil er ist, wie er ist, haut mich um.“ 

Dass der zweifache Familienvater nun mit seinen Töchtern in ein Land wechseln wird, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden und Frauen bis 2018 nicht Auto fahren durften, brachte viele auf die Zinne. Vor allem die in solchen Fragen immer meinungsstarken und sehr schnell reagierenden Kritiker aus der zweiten Reihe. 

„Viel Glück in Saudi-Arabien, Jordan. Aber Du hast den Respekt vieler Menschen verloren, die Dir vertraut haben“, schrieb der frühere National- und Premier-League-Spieler Thomas Hitzlsperger, der sich 2014 zu seiner Homosexualität bekannt hatte, bei Twitter. Das LGBT+-Fan-Netzwerk Pride in Football nannte es „enttäuschend, wenn jemand, der jahrelang ein Verbündeter war, dorthin wechselt, wo LGBT+-Leute angegriffen oder verhaftet werden.“

Moralisch oder ehrlich ist es sicher nicht. Aber das ist in einem Zeitalter, in dem sich die Parameter des Fußballs durch die neuen, unbegrenzten finanziellen Ressourcen verschoben haben, nur noch ein schwacher Rettungsanker. 

Das ist der Markt mit seinen Gesetzen – und nichts anderes. Jordan Henderson hat dank dieser neuen Marktverhältnisse die Möglichkeit, seine Familie über Generationen finanziell abzusichern. Nicht mehr und nicht weniger. 

„Unmoralische“ Wechsel hat es schon viele gegeben im Fußball. Auch und gerade in der Premier League. Von Anfang an. Manchester United luchste Leeds United Stürmerstar Erich Cantona für gerade mal 1,5 Mio. Euro ab (1992). Oder: Schlag nach bei Robin van Persie (von Arsenal zu Manchester United, 2012), Carlos Tevez (wechselte innerhalb von Manchester die Fronten, 2008) oder Ashley Cole, der 2006 dem Lockruf der Abramowitsch-Millionen folgte und vom FC Arsenal zum Londoner Rivalen FC Chelsea ging. 60.000 Euro pro Woche, die ihm die „Gunners“ boten, waren ihm nicht genug. 

Oder in Spanien Luis Figo, der sich im EURO-Sommer 2000 mit einem später von Netflix (Die Figo-Affäre - Der Transfer, der den Fußball veränderte) in einer sehenswerten Dokumentation aufgearbeiteten Transfer vom FC Barcelona zu Real Madrid täglich neue Feinde machte. 

Tumult artige Szenen löste 1990 der Wechsel von Roberto Baggio, dem Fußball-Mozart Italiens, vom AC Florenz zu Juventus Turin aus – für eine aus heutiger Sicht lächerliche Summe von umgerechnet 10 Mio. Euro. 

In der Bundesliga wechselten Robert Lewandowski und Mario Götze 2013 und 2014 zwischen den Schwergewichten BVB und FC Bayern, Andreas Möller wagte gar den ganz großen Tabubruch und ging von Dortmund zu Schalke (2000). Fußball wurde trotzdem weiter gespielt. Und: Jeder Kopf hat seinen Preis, so hieß 1980 der letzte Film mit Steve McQueen (vgl. Steve McQueen in seinem letzten Fall). Daran hat sich nichts geändert. 

Im Morast der Moralisten 

Ich halte es mit Winfried Schaffrath und begebe mich in den Morast der Moralisten. Vorab: Ich will mir kein Urteil über die Überlegungen und Empfindungen von Jordan Henderson bei diesem Wechsel nach Saudi-Arabien anmaßen. Das ist seine Privatsache. 

Zwar bin ich selten einer Meinung mit den Machern bei Union Berlin, die mir zu oft „prinzipiell dagegen“ sind. Aber wenn Unions Präsident Dirk Zingler dazu bemerkt, dass er „nie jemanden moralisch verurteilen“ wird, „weil er irgendwo hingeht, um für sich und seine Familie mehr Geld zu verdienen“, dann steht er damit nicht allein. Vielmehr ginge ihm „diese moralische Überhöhung Europas auf den Nerv.“ Damit könnte er ebenfalls richtig liegen… 

Es wird spannend sein, ob Jordan Henderson diesen kontroversen Wechsel selbst kommentiert. Er kann es tun, muss es aber nicht tun. Und ob er den Vertrag erfüllt und die Lebenssituation in Saudi-Arabien so annimmt, wie sie sich darstellt, steht auf einem ganz anderen Blatt. Das wird oft und gerne vergessen. Gerade jetzt, wo das Geschrei um einen 33-jährigen Liverpool-Profi, der in Deutschland bislang kaum beachtet wurde, riesengroß ist. 

Reden wir Tacheles: Fußball ist ein Tagesgeschäft. 

492 Spiele 

Aus fußballerischer Sicht muss man sagen: 12 Jahre lang hat er in 492 Spielen für den FC Liverpool alles rein gehauen, was drin war. Er hat mit Liverpool fast jeden Titel gewonnen, den es zu gewinnen gab. 

Schauen Sie bei Ihrer nächsten Fußballreise FC Liverpool ins Vereinsmuseum: Champions-League-Sieger 2019, englischer Meister 2020 nach 30 Jahren Durststrecke, UEFA Supercup 2019, FA Cup und englischer Ligapokal-Gewinner 2022 – ein großer Kapitän einer großen „Reds“-Mannschaft. Diese war aber – siehe 2022/2023 – über dem Zenit. 

Ein Fußballprofi muss die Jahre, die ihm in diesem Sport bleiben, für sich nutzen. Sicher, Henderson musste in Anfield finanziell sicher nicht am Pub-Tischtuch nagen. Aber er hat für sich und für seine Familie nun diese Entscheidung getroffen. Das muss man nicht gut finden, aber man muss es respektieren und sich selbst fragen, wie man an dieser Stelle gehandelt hätte. 

Bye bye, „Hendo“

Der Autor

Carsten Germann berichtet seit 2002 aus erster Hand über den englischen Fußball, u. a. für DIE WELT, BILD am SONNTAG und SPORT BILD sowie seit 2021 als leitender Redakteur bei Fussballdaten.de Zudem gab er mit den Büchern Football’s home (2007) und Absolute Dynamite! (2010) zwei Sammelbände mit seinen Fußball-Reiseerlebnissen aus Großbritannien heraus. Für DIE FUSSBALLREISE schreibt er regelmäßig über den Insel-Kick.


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